Das wirklich Wahre und Pure an Nutzen bringen uns nur die Naturwissenschaften, weiß jedes Kind. Die Mathematik gilt als rein und unbestechlich. Auch wenn Georg Christoph Lichtenberg relativiert: “Die Mathematik ist eine gar herrliche Wissenschaft, aber die Mathematiker taugen oft den Henker nicht.” Und Albert Einstein erklärt: “Mathematik ist die perfekte Methode, sich selbst an der Nase herumzuführen.” Sicher, wer etwa freiwillig in die Tiefen von Mikrostrukturen eintaucht, muss damit rechnen als seltsamer Typ mit unendlicher Geduld gesehen zu werden. Aber wenn’s doch der Menschheit dient. Also sei hier ausnahmsweise auf ein vielversprechendes Treffen hingewiesen: Denn neueste Trends diskutieren Wissenschaftler vom 8. bis 13. September auf der größten europäischen Konferenz für Materialforschung in Sevilla.
Der wissenschaftliche Leiter der Konferenz, Professor Frank Mücklich (Foto; bellhäuser/das bilderwerk) von der Universität des Saarlandes, und seine Kollegen unter den Materialforschern machen mehrere Trends aus, mit denen sich europaweit Wissenschaftler befassen. Lange Zeit habe man immer komplexere Materialien mit einem Gemisch aus vielen Rohstoffen entwickelt, doch diese werden knapper und sehr teuer. Deshalb konzentriere sich die Wissenschaft auf Lösungen, die mit wenig Materialien umzusetzen sind. So bieten kohlenstoffbasierte, mechanisch extrem feste Nanotubes auch eine hohe elektrische Leitfähigkeit. Viele Materialforscher orientierten sich mittlerweile an Vorbildern aus der Natur, die im Laufe der Evolution wirkungsvolle Systeme geschaffen haben und dabei oft mit wenigen chemischen Elementen auskommen. Von der Natur lernen firmiert bekanntlich unter Bionik:
Einen weiterer Trend: Intelligente und autonome Systeme, die sich selbst mit Energie versorgen und die “spüren”, welche Belastung vorliegt und selbst Korrektursignale an das System senden. Diese Systeme werden etwa im so genannten „Smart Home“ für die Energiesteuerung und Überwachung der Häuser eingesetzt. Hierzu fällt mir als Beispiel aus der Praxis ein, was jüngst der verantwortliche Vorstand für Innovation, Marketing und Sales der Evonik Industries AG, Patrik Wohlhauser, im Interview sagte: “Wir forschen an nachwachsenden Rohstoffen, um Öl und Gas zu ersetzen.” Das ist eine Ansage.
Einen großen Schub hat die Materialforschung durch neue Analysemethoden erhalten. Alle Materialien sind heute chemisch exakt zu analysieren und ihre Gitterstruktur der Kristalle anschaulich zu zeigen. Damit kann man Materialien erstmals vollständig verstehen, was hilft, die herkömmlichen Werkstoffe zu verbessern und neue zu entwickeln, bei denen man zum Beispiel Eigenschaften miteinander kombiniert, die früher unvereinbar waren. Dazu muss man allerdings schon mal mit der “Atomsonden-Tomographie ins Innere von Materialien blicken”, wie hier im Saarland im Bild von Oliver Dietze:
Die Ankündigung zur Konferenz klingt so einleuchtend wie verlockend: “Wenn die Flügel eines Flugzeugs bedrohliche Belastungen selbst ,fühlen’ oder Metallschäume leicht und stabil sind wie unsere Knochen, dann haben Materialforscher ihre Finger im Spiel.” Ihr Ziel: “Sie suchen sich perfekte Vorbilder in der Natur, um Materialien neue Funktionen zu verleihen. Mit Hilfe der Mikroskopie und Tomographie entwickeln sie immer präzisere Analysenmethoden, um ins Innere von Materialien zu blicken. Damit können sie ihre Strukturen besser verstehen, um maßgeschneiderte Werkstoffe für die Industrie, Medizin und den Energiesektor zu entwickeln.”
Die Relevanz dieses Forschungszweiges erklärt der Wissenschaftler damit, dass deutsche Exportgüter zu etwa 70 Prozent nur deshalb am Weltmarkt erfolgreich seien, weil sie innovative Werkstoffe nutzen. Dies habe eine Studie der Akademie der Technikwissenschaften gezeigt. Die Materialforschung sei daher “für die europäische Wettbewerbsfähigkeit von enormer Bedeutung“, lässt sich Mücklich zitieren in Vorfreude auf seine Konferenz in Sevilla, zu der rund 2500 Wissenschaftler aus ganz Europa, den USA, Asien, Lateinamerika und Australien erwartet werden. Aber bitte Vorsicht bei allen Versuchen, liebe Forscher. Bitte nicht so fahrlässig wie hier mit der Gefahr umgehen, teure Tölpel:
Die Materialforschung decke heute eine große Bandbreite ab, fährt der Forscher fort: Die Automobilindustrie etwa verlange nach stabilen, aber möglichst leichten Materialien für Karosserien und Motoren. Sie sei aber auch an neuen Werkstoffen für die Sensorik und Steuerung vor allem von Premiumfahrzeugen interessiert. In der Elektromobilität seien hingegen Materialien gefragt, die eine stabile Stromverteilung mit möglichst geringen Verlusten sicherstellen oder Energie speichern können. Die Medizintechnik wiederum benötige winzige Sensoren, die sich selbst mit Strom versorgen, zum Beispiel durch geringe Temperaturunterschiede.